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Dorothee Schmitz-Köster: Unbrauchbare Väter. Rezension

Die Autorin entdeckt die Lebensborn-Väter, die für sie wie für manche Autoren zum Thema Lebensborn e.V. bislang Randerscheinung geblieben seien. Ihre Empörung über diese Männer sei aber mit der Zeit gewachsen, berichtet sie gleich auf der ersten Seite ihres neuesten Werkes über den Verein Lebensborn e.V. (S. 7).

Dorothee Schmitz-Köster: Unbrauchbare Väter
Über Muster-Männer, Seitenspringer und
flüchtende Erzeuger im Lebensborn
Wallstein Verlag, 160 S., 47 Abb., geb., Schutzumschlag, 14 x 22,2 cm
ISBN 978-3-8353-5325-1 (Oktober 2022)

"Vielen Männern des SS-Lebensborn ist es gelungen, anonym zu bleiben – aber nicht allen: eine Geschichte über Doppelmoral, Geheimnisse und unendliches Leid."

So betitelt der Wallstein Verlag seine Werbung für das Buch, Werbetext wahrscheinlich von der Autorin, und schon im ersten Satz kommt die unbewiesene Behauptung, der Verein wäre gegründet worden, um die Geburtenrate "arischer Kinder" zu erhöhen. Andere Gründe werden gar nicht erst in Erwägung gezogen, sondern es wird der Propaganda der SS und ihrer Vereinssatzung, vom 10. Februar 1938, geglaubt:

"Seine Aufgaben liegen auf bevölkerungspolitischem Gebiet. 'Lebensborn' hat den Kinder-Reichtum in der SS zu unterstützen, jede Mutter guten Blutes zu schützen und zu betreuen und für hilfsbedürftige Mütter und Kinder guten Blutes zu sorgen."

Na, wenn Heinrich Himmler es selbst sagt, dann muß es ja stimmen!

Auf dessen Initiative hin sei der Verein Lebensborn e.V. gegründet worden. Es war am am 12. Dezember 1935, und er war nicht der Gründer, sondern zehn bis heute namentlich nicht bekannte SS- Führer, was die Autorin nicht erwähnt. So enthebt sie sich der Beantwortung der Frage, warum, wenn der Verein eine angeblich wesentliche rassen- und bevölkerungspolitische Bedeutung hat, nicht er, der RFSS, und seine zehn SS-Führer namentlich zeichnen und damit ganz groß auftreten.

"Ich habe den Lebensborn geschaffen," in einer Kundgebung, in Cochem, 25. Mai 1944, mit Vertretern der Justiz, soll eine "sprachliche Überhöhung " sein, der RFSS "macht aus seiner Idee einen regelrechten Schöpfungsakt und stilisiert sich selbst zum Demiurgen". (S.44) Da darf man raten, in welcher Bedeutung dieses Begriffs, vielleicht Schöpfergott niedrigen Ranges? "Göttlicher Anfertiger"? "Unbewegter Beweger"? Wikipedia schlägt einiges vor, und nichts paßt auf Heinrich Himmler.

Worum geht es beim Verein Lebensborn e.V.?

68 bis 69 Millionen Einwohnern des Deutschen Reichs werden, von 1934 bis 1939, in jedem Jahr 1,2 bis 1,4 Millionen Kinder geboren, davon mehr als 100 000 Kinder/Jahr unehelich, 8% bis 10%. Von 1935 bis 1937 sinkt die Zahl der unehelich geborenen Kinder auf um die 98 000, was nicht am Wirken des Vereins Lebensborn e.V. liegen kann, der erst im August 1936 seine Tätigkeit aufnimmt.

Ca. 800 bis 1 000 Lebensbornkinder/Jahr werden in den deutschen Heimen des Vereins geboren, davon ist mehr als die Hälfte unehelich. Das sind 0,5% der unehelich geborenen und weniger als 0,5 Promille aller Kinder/Jahr. Dorothee Schmitz Köster kommt bei den außer- oder unehelich in den Heimen geborenen Kindern auf 33% + knapp ein Drittel, insgesamt auf 60% (S. 56).

Der Verein Lebensborn e.V. hat, unbeschadet der Propagandareden des RFSS, weder eine marginale noch überhaupt eine Bedeutung für die Bevölkerungs- und Rassenpolitik des Dritten Reiches, sondern er wird gegründet, weil die im Lande herrschende konservative Sexualmoral, vor allem die der katholischen Kirche, nicht den Vorstellungen des RFSS über enthemmt gegen den Feind vorgehende Krieger entspricht, die demnächst in dem geplanten Krieg benötigt werden: "Tugendbolde sind keine guten Krieger", pflegte er zu sagen. Man hätte es beim Marsch auf die Feldherrnhalle, 8. und 9. November 1923, gesehen.

Der RFSS läßt den Verein gründen als Versteck für ledige Mütter und ihre unehelich geborenen Kinder, deren meist verheiratete Väter, vornehmlich SS-Führer, geheim gehalten werden sollen, auf daß die Ehre der SS und die Ehe der Erzeuger nicht durch Gerede, Proteste und Skandale der sitzengelassenen Frauen gefährdet werde. Beide nämlich sind der SS und ihrem Führer noch heiliger als die ledige Mutter "guten Blutes". Die Männer sollen außerhalb von Sitte und Moral leben und sich sexuell austoben können, die Folgen aber mit Anstand regeln.

Das ist für Dorothee Schmitz-Köster kein Thema, obgleich die gesamte Familienpolitik des RFSS darauf hinausläuft, und er selbst das beste Beispiel dafür ist: "unbrav" und "unanständig" zu sein, das ist sein größter Wunsch, wie er sich seiner Frau Margarete Boden gegenüber äußert. Und damit gleich weiter zum Buchtitel "Unbrauchbare Väter".

Es gibt zwei Gruppen von Kindern, die im Lebensbornheim ehelich geborenen Kinder und die von ledigen Müttern geborenen Lebensbornkinder. Die ersteren haben Väter wie alle Kinder verheirateter Eltern im Reich, die Lebensbornkinder aber haben vom Sinn und Zweck des Vereins her gar keine Väter, weder brauchbare noch unbrauchbare. Darum geht es ja gerade!

Die schwangere ledige Frau wird im Lebensbornheim untergebracht, um die Vaterschaft zu verbergen. Geheimhaltung, von den Frauen und ihren Geschlechtspartnern gleichermaßen gewünscht, kann ein Wunsch der Frau sein, ist aber eine von den Erzeugern geforderte Bedingung, daß sie die Schwangere dort unterbringen und ihren Aufenthalt finanzieren, und zwar nach ihren Vermögensverhältnissen. Für die Schwangere und ihre Entbindung zahlt die Krankenkasse.

Ins Lebensbornheim kommen überhaupt nur ledige Frauen, für deren Partner es auf Grund ihrer gesellschaftlichen Stellung in der SS, NSDAP oder in sonstiger für die Herrschaft des NS-Systems wichtigen Position nötig ist, die Schwangerschaft geheim zu halten. Da die Heime nicht ausschließlich mit Mesalliancen zu füllen sind, erst recht nicht allein mit solchen von SS-Führern, stehen sie auch verheirateten SS-Frauen zur Entbindung offen. (S. 55) Diese nutzen die gute Versorgung im Heim; sie sind erhaben über die unehelichen Schwangeren und Mütter und lassen sie das täglich spüren.

Untertitel: Über Muster-Männer, Seitenspringer und flüchtende Erzeuger im Lebensborn

Bei Muster-Männern kann es sich nur um verheiratete Väter handeln, deren Ehefrauen im SS-Heim entbinden. Seitenspringer können per definitionem keine Muster-Männer sein, und schwangere Partnerinnen von flüchtenden Erzeugern finden grundsätzlich keine Aufnahme im Lebensbornheim. Der Erzeuger oder ein von ihnen beauftragter der SS angehörender Rechtsanwalt und Notar stellen den Antrag, die schwangere Geliebte aufzunehmen, und der Erzeuger wird zur Kasse gebeten.

Dr. Dorothee Schmitz-Köster

Die Autorin recherchiert seit den 90er Jahren über den Verein Lebensborn e.V. Ihr verdanken wir, allen voran die Lebensbornkinder, wertvolle Informationen über den von der SS des Heinrich Himmler gegründeten Verein. In ihren Büchern geht es um die Lebensbornmütter und ihre Kinder:

"Deutsche Mutter, bist du bereit. Alltag im Lebensborn", 1997, und, 2010 aktualisiert, "'Deutsche Mutter, bist du bereit ...' Der Lebensborn und seine Kinder", zwei im Aufbau Verlag erschienene Standardwerke, die Pflichtlektüre zum Verständnis des Funktionierens der Lebensbornheime sind. "Kind L 364" handelt von der Familiengeschichte eines Lebensbornkindes, und "Lebenslang Lebensborn. Die Wunschkinder der SS und was aus ihnen wurde", Piper 2012, bringt Kurzbeschreibungen und Interviews von 20 Lebensbornkindern.

Das gesamte literarische Werk, darunter fünf Bücher über den Verein Lebensborn e.V. mit Einführungen in die Thematik und Rezensionen, findet man auf ihrer Website:

Was Sie von mir lesen können …

Ich empfehle diese Bücher, vor allem "'Deutsche Mutter, bist du bereit ...' Der Lebensborn und seine Kinder", Aufbau Verlag 2010, und "Lebenslang Lebensborn. Die Wunschkinder der SS und was aus ihnen wurde", Piper 2012.

Aus den Interviews in "Lebenslang Lebensborn" geht hervor, daß keines der Lebensbornkinder seine Geburt rassen- und bevölkerungspolitischen Zielen des RFSS und des NS-Systems dankt oder schuldet, weder die ehelich noch die unehelich geborenen noch die aus Osteuropa verschleppten; denn die wurden zuvor in ihren Familien geboren, von deutschen Besatzern geraubt und zur Eindeutschung in ein Lebensbornheim gesteckt; es handelt sich um 350 bis 500 Kinder.

Die "unbrauchbaren Väter" kann man getrost vergessen. Schade! 😥

Hier von meinem Blog zwei Lesevorschläge, in denen es um den Verein Lebensborn e.V. in den Medien Frankreichs geht. In beiden Artikeln findet man auch Informationen grundsätzlicher Art über den Verein Lebensborn e.V.  Viel Spaß bei der Lektüre!

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