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Vom 68er ohne Umwege zum Rentner im Salon

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Wolfgang Prosinger, Jahrgang 1948, hat jetzt viel Zeit, in die Oper zu gehen und dort Wilmersdorfer Witwen beim Plausch zu belauschen.

Update. Antwort des Rentners Wolfgang Prosinger am Ende des Textes

Das tut er erstmalig, da ist er 38 Jahre, beim Besuch des Stückes Linie 1, im GRIPS-Theater, am 30. April 1986, oder danach. Ich tippe auf danach; denn zunächst ist das Stück nicht der Rede wert, kann ich bezeugen, bin in der Premiere gewesen. Der junge Ausreißer reist eigens aus der Provinz an, nicht ahnend, daß er in Berlin wieder in der Provinz landet. Das kann er nicht wissen, aber Leute wie ich, die zu der Zeit schon mehr als zwanzig Jahre in Berlin wohnen, hätten es ihm sagen können. Oder kommt er zur Vorstellung gar aus seiner Weltstadt Freiburg nach Nürnberg, und er kriegt nichts mit vom "Orientexpreß", wie die Linie 1 dank der Ansiedlung der Türken in Kreuzberg genannt wird? Das würde sein Unterlegenheitsgefühl erklären.

Bedenkt man, daß Linie 1 heute noch vor ausverkauftem Haus gespielt wird, "Karten 20.00 €, 12.00 € ermäßigt, 5.50 € Theater der Schulen (nur Berliner Schulen)", dann gewinnt man einen Eindruck vom Weltstadtniveau der deutschen Hauptstadt.

Wenn ich bedenke, wer in Berlin einfällt, als alles schon gelaufen ist, als andere schon ihr Ränzlein schnüren, um von dort abzuhauen! Wolfgang Prosinger ist einer von ihnen, ab 2001 arbeitet er bei der Alten Tante Tagesspiegel (Wolfgang Neuss), die ist für den Tag, was DIE ZEIT für die Woche ist.

Die gute Zeit in Berlin aber ist vorher, in den 60er Jahren, im 1965 von Dieter Kursawe und Volker Ludwig alias Eckart Hachfeld als Abspaltung der Wühlmäuse gegründeten Reichskabarett, in der Ludwigkirchstraße, da steppt der Bär. Das GRIPS-Theater gründen sie ein Jahr später.

Im Reichskabarett tritt mein Freund Joachim Kemmer auf, lange vor seiner Verwandlung in Humphrey Bogart. Friede ihrer beider Asche. Die Femme fatale mit den roten Haaren Ortrud Beginnen treibt dort ihr Unwesen. Gegenüber ist die Lesben-Bar Sappho, nicht zu verwechseln mit dem Lesbenfriedhof, der befindet sich am Prenzelberg. Die Bar, sozusagen das Gegenteil von einem Friedhof, gehört dem zwielichtigen Harry, der manchmal zu einem Bier ins Reichskabarett kommt. Heute residiert drei Häuser weiter die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und zeigt Regierungsmitgliedern, wo der russische Bär steppt, oder besser, wo sie behauptet, da steppte der Bär.

Das sind die Zeiten, und im Mai 1967 wird von Karmeen alias Fred Thomé die Lützower Lampe gegründet. Da macht Wolfgang Prosinger gerade Abitur in der Provinz, wo er bleibt und in den spannendsten Berliner Jahren in München Germanistik und Geschichte studiert, im Kuhstall, wie meine Freundin Christa, eine zwangsweise nach München verschlagene Berlinerin aus der Dimitroffstraße, die Heimliche Hauptstadt nennt. Oder ist er da schon im Grünen, in Freiburg?

Von einem, der die Verrentung als größten Einschnitt unseres Lebens betrachtet, weil vielleicht sonst nicht viel Einschneidendes geschah, der am Ende seiner Laufbahn, als ehemaliger Ressortleiter der Seite 3 der Alten Tante Tagesspiegel, über Rentnerdasein und Sterbehilfe sinniert, kann man nichts anderes erwarten als einen zum Witwentratsch mit "kleinem Sektchen" aufggemotzten Monolog über eine Opernaufführung. Welche ist es? Das verschweigt der Autor, man könnte Kritikern recht geben. Informationswert des Tratsches? Null!

In Berlin führt man keine "rustikalen" Dialoge, das ist der erste Stilbruch. Wenn ich nicht schon oft Dialogen älterer Damen in Berliner Schauspiel- und Opernhäusern unbeabsichtigt gelauscht hätte, schrillen und weniger schrillen, würde ich dem vielleicht aufsitzen. Schon zwei Mal waren die Damen angeblich in der Oper. Einmal mehr als der Autor des Artikels?

Es ist schon lange so, daß die subventionierten Opern- und Schauspielinszenierungen dem Zeitgeist huldigen, daß sie die Intendanten und Regisseure umtreibende "Verkörperung der erzkonservativen Sehnsucht nach dem Kleinkarierten" sind. Da sind alte Damen anderes gewohnt, und sie messen die heutigen Feinripphosen an großen Berliner Darbietungen und nicht an Freiburger Kitsch.

Wolfgang Prosinger bereitet mit seiner Nullnummer vor auf einen Rundumschlag, wozu er den Dialog eigens erfunden hat, behaupte ich ungeschützt. Der Leerlauf der Rede und Gegenrede bereitet die Zuordnung der Witwen zu den Wählern der Alternative für Deutschland vor, "nach der Europawahl". Es folgt in einem Erguß das ganze Programm der Beleidigung der Wähler, übrigens auch derjenigen, die nicht die Alternative für Deutschland gewählt haben. Er breitet seine Philosophie aus, der einsame Rentner auf der Parkbank.

Die vermarktet er gleich doppelt, im Tagesspiegel sieht der Autor Wilmersdorfer Witwen überall, und da man damit in der Leserschaft des Cicero mangels Kenntnis der Berliner Geschichte nicht punkten kann, geht's dort um Die ewigen Opfer einer feindlichen Welt. Es findet aber statt im Salon, soviel Glanz muß sein. Was am Autor und seinem Artikel salonfähig ist, müßte mir aber einer verklickern. Oder ist ein Frisiersalon gemeint?

Die Kommentatoren bringen, wie das in letzter Zeit bei nahezu allen Artikeln deutscher Medien üblich ist, Richtigstellungen und die Informationen, die man sich im Artikel gewünscht hätte. Ich kenne Leute, die klicken die Medien nur noch an der interessanten Kommentare wegen. Wenn's so weitergeht, werden sie auch das nicht mehr tun, und Schluß ist mit den Werbeeinnahmen. Dann landet das Zeugs endlich dort, wohin es gehört, auf dem Altpapierhaufen der Geschichte.

Ein Nachtrag zur Empörung des Wolfgang Prosinger

Auch in der Verblödung ist Frankreich schon weiter als Deutschland. Da phantasieren heute im Indépendant der 55-jährige Emmanuel Négrier, Politologe, Professor und Forschungsdirektor an der Universität Montpellier, und Catherine Bernié-Boissard, Professorin für Geographie der Universität Nîmes, über die Wähler des Front National : Ce cocktail maison qui enracine le vote FN. Dieses hausgemachte Gebräu, in dem die Wahl des Front National heimisch wird. Autorin ist die Studentin der Ethnologie Prisca Borrel. Der Artikel ist nicht online, aber Jacques, in meinem Stamm-Café, hebt ihn für mich auf, so daß ich morgen vielleicht noch einiges ergänzen kann.

Forschungsschwerpunkte des Emmanuel Négrier sind laut Lebenslauf Politik, Strategien und Publikum von Festivals, Raumdynamik, kulturelle Vielfältigkeit internationaler Vergleich in der Kulturpolitik, die Umsetzung von öffentlichen Aktionen, Veränderungen der territorialen Maßstäbe, regionales politisches Leben. Seine Forschungsschwerpunkte weisen ihn aus als Experte zu Analyse und Kritik der Wähler des Front National. Seine Publikationsliste bestätigt dies. Er ist einer aus dem Heer der Experten, wie sie auch in Deutschland die Medien bevölkern, von der Alten Tante Tagesspiegel über die Anstalten bis zur ZEIT. Er sieht im Gegensatz zum Rentner Wolfgang Prosinger wenigstens gut aus.

Die Schwerpunkte der Forschung von Catherine Bernié-Boissard sind Städtische Einrichtungen und die kulturelle Entwicklung von Gebieten sowie Verletzlichkeit und technologische Risiken (Kernenergie).

An den Schwerpunkten beider Wissenschaftler sieht man ihre ideologische Ausrichtung. Nicht nur in der Politik, redressement productif, produktive Aufrichtung, Économie sociale et solidaire, soziale und solidarische Wirtschaft, Réforme de l'État et Simplification, Reform des Staates und Vereinfachung, sondern vor allem in der Wissenschaft werden Arbeitsbereiche schon lange nicht mehr sachorientiert, sondern schon in der Bezeichnung ideologisch ausgerichtet. Es wird nicht einmal ein Hauch von Unvoreingenommenheit vorgetäuscht.

Wie man es aus überregionalen, regionalen und lokalen Blättern kennt, wird grundsätzlich keine Äußerung der Interviewten hinterfragt, die Geographin erzählt etwas von einer großen Anzahl von Zuwanderern ins Departement Roussillon, sie integrierten sich nicht und sorgten für Konflikte, un boom démographique pourvoyeur de conflits, ohne zu erwähnen, daß diese zukünftigen Arbeitslosen alle aus Nordafrika stammen, was Leser des Indépendant allerdings schon richtig verstehen.

Der Politologe weiß, daß die Wähler des Front National mehrheitlich sous-diplomé sind, ohne Ausbildungsabschluß. Darüber lachen die Gäste meines Stamm-Cafés herzlich, unter ihnen aktive und verrentete Volkswirte und Ingenieure, ein Gerichtsvollzieher, ein ehemaliger Militärkommandeur, Absolvent der Militärakademie von Saint-Cyr, und eine promovierte Meeresbiologin. "Was gibt es Lustiges," fragt der auf ein Schwätzchen in der Mittagspause eintretende Immobilienhändler. Dann lacht er mit.

Der Politologe zitiert den ihm von einem Wähler berichteten Grund seiner Wahl des Front National : un anglais qui m'a volé ma place de parking ..., ein Engländer, der mir meinen Parkplatz weggenommen hat. Darauf muß man erst einmal kommen! Dagegen hat der Dialog der alten Damen des Wolfgang Prosinger hohen Wahrscheinlichkeitswert.

Update

Erstaunlich, was Sie da alles von sich geben. Warum sind Sie bloß so böse auf mich? Und warum schreiben Sie so entsetzlich schlecht? Und warum versuchen Sie zu berlinern , wo Sie es doch gar nicht können. Fragen über Fragen, auf die man am liebsten keine Antworten möchte.
Von meinem iPhone gesendet [10. Juni 2014, 22:20 Uhr]

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